Ein Leben für die Sterne. Zum 450. Geburtstag von Johannes Kepler
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 35
Am 27. Dezember 2021 (Julianischer Kalender) wird der 450. Geburtstag des berühmten Astronomen und Mathematikers Johannes Kepler (1571–1631) gefeiert. Die Bedeutung dieses in Weil der Stadt geborenen Gelehrten für die Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit kann kaum überschätzt werden. Obwohl er zu Lebzeiten im Schatten eines Tycho Brahe (1546–1601) und Galileo Galilei (1564–1642) stand und aus konfessionellen Gründen nie eine Professur in seinem Heimatland erhielt, prägte er mit seinen Beobachtungen und Berechnungen der Planeten und Sterne, den daraus abgeleiteten Theorien und Gesetzen nachhaltig die Entwicklung der Astronomie.
Die Forschungsbibliothek Gotha verfügt dank des Sammeleifers verschiedener Herzöge, vor allem des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745–1804), über eine ansehnliche Sammlung an Kepleriana. Dazu zählen seine Hauptwerke in historischen Drucken aus dem 16. und 17. Jahrhundert sowie, noch bedeutender, zwei eigenhändige Briefe des Gelehrten an Stephan Gerlach (1546–1612), seinem ehemaligen Lehrer am Evangelischen Stift in Tübingen. Der Beitrag gibt einen kleinen Einblick in diese Sammlung.
Im Bestand befindet sich z.B. Keplers Erstlingswerk, das Mysterium Cosmographicum von 1596, in dem sich die bekannte Darstellung des heliozentrischen Weltbaus in Form geometrisch korrekter Planetenverhältnisse findet. Ausgehend von einer größtmöglichen Harmonie im Universum schrieb Kepler jeder Planetensphäre jeweils einen der fünf regelmäßigen, platonischen Körper ein, so dass der Saturnbahn der Würfel, der Jupiterbahn das Tetraeder, der Marsbahn das Dodekaeder, der Erdbahn das Ikosaeder und der Venusbahn das Oktaeder zukommt.1Vgl. die Beschreibung der Abbildung in Salatowsky/Lotze 2015, S. 33 und 171.
Für Kepler konnte es aus diesem Grunde nicht mehr als sechs Planeten (einschließlich des Merkur) geben, worin er sich bekanntlich irrte. Aus der Privatbibliothek Ernsts II. stammen die Tabulae Rudolphinae von 1627. Ihr Vorbesitzer war u.a. der klassische Philologe, Philosoph und Theologe Johann Albert Fabricius (1669–1736), der in Hamburg wirkte. Bekannt ist Keplers Werk vor allem durch den Titelkupfer, auf dem er sich nicht nur selbst im Sockel des Tempels der Astronomie porträtieren ließ, sondern in aller Kürze die Geschichte dieser Wissenschaft erzählte.
An den Säulen sind astronomische Instrumente aufgehängt, während die alten Meister der Astronomie Hipparch und Ptolemaios sowie die neuen Meister Nicolaus Copernicus und Tycho Brahe den jeweiligen Stand der Wissenschaft repräsentieren. Brahe verweist hierbei auf sein auf der Unterseite des Tempels eingezeichnetes Weltmodell und fragt: „Was, wenn es so wäre?“
Kepler erinnerte damit an das seinerzeit noch diskutierte sogenannte Tychonische bzw. geo-heliozentrische Weltmodell, wonach die Erde weiterhin im Zentrum des Universums steht, während sich die Planeten um die Sonne bewegen.2Vgl. die Beschreibung der Abbildung in Salatowsky/Lotze 2015, S. 177f. Im Bestand befinden sich ferner die wichtigen Werke Harmonices mundi libri V. (1619) und die Epitome astronmomiae Copernicanae (1618).
Von besonderer Bedeutung sind darüber hinaus die beiden erwähnten Kepler-Briefe an Stephan Gerlach, die aus unterschiedlichen Zeiten stammen und im Zusammenhang mit Keplers Biographie stehen. Nach Erwerb des Landesexamens in der evangelischen Klosterschule im ehemaligen Kloster Maulbronn, heute wie damals ein ausgezeichnetes Gymnasium, studierte Kepler seit 1589 Theologie am berühmten Evangelischen Stift in Tübingen. Dort war Stephan Gerlach (1546–1612) sein bedeutendster Lehrer. Keplers Interessen galten darüber hinaus der Philosophie, Mathematik und Astronomie, die er insbesondere bei Michael Mästlin (1550–1631) studierte. 1594 beendete er vorzeitig sein Theologie-Studium, übernahm stattdessen eine Professur für Mathematik an der evangelischen Stiftsschule in Graz, wo er bis 1600 wirkte.
Kurz nach seiner Ankunft schrieb er am 19./29. Oktober 1594 einen Brief an Gerlach.
Der Tonfall erinnert noch stark an das ehemalige Lehrer-Schüler-Verhältnis. Kepler dankte seinem Lehrer, der ihm Geld geliehen hatte, mit der Überreichung eines Prognosticon auf das Jahr 1595. Diese Jahreskalender waren im 16. Jahrhundert außerordentlich beliebt und enthielten Prophezeiungen auf die nähere und weitere Zukunft. Sie waren das Ergebnis astrologischer Deutungen der Sternenkonstellationen und Planetenbewegungen, mit denen ein ursächlicher Zusammenhang mit den irdischen Ereignissen, Charakteren und Schicksalen der Menschen aufgezeigt werden sollte. Dazu gehörte vor allem die Erstellung von Horoskopen, wie sie auch Kepler immer wieder durchführte. Kepler nahm z.B. in seiner Schrift Tertius interveniens noch 1610 eine vermittelnde Position (daher der Titel) ein, die sich zwischen dem übertriebenen und damit falschen Gebrauch der Astrologie und ihrer vollkommenen Verwerfung positionierte. Er gestand ein, dass die Astrologie keinen unfehlbaren Beweis für die Richtigkeit ihrer Deutungen abgeben könne. Gleichwohl beruhe sie auf vernünftigen Mußmaßungen, die zwar nicht zur detaillierten Vorhersage bestimmter Ereignisse, die er überhaupt für unmöglich hielt, geeignet sind, sehr wohl aber zur Bestimmung gewisser Tendenzen und Möglichkeiten im Rahmen der uns geläufigen Welt. Noch 1619 veröffentlichte Kepler ein solches Prognosticon im Druck. Kepler war sich dessen bewusst, dass die Übersendung des Prognosticon bei Gerlach auf Vorbehalte stoßen würde. In der Tat lehnten viele Theologen dergleichen Vorhersagen ab, auch wenn es im Luthertum des frühen 17. Jahrhunderts noch zu keiner einhelligen Haltung kommen sollte. War es Ironie, wenn Kepler im Brief von den „wertlosen Konstellationen der Gestirne (conjecturae) der Astrologen“ sprach? Oder war es ein Eingeständnis der Ambivalenz dieser Kunst, als ob er damit seine eigenen Studien abwerten wollte? Wie auch immer es sich damit verhält: Der Astrologe Kepler widerspricht dem Bild eines streng mathematisch argumentierenden Astronomen, der die Planetenbewegungen entdeckte. Das ist kein Einwand gegen Kepler, der ein Kind seiner Zeit war, sondern belegt nur die Ambivalenz der Frühen Neuzeit.
Interessant ist noch ein zweiter Aspekt des Briefes, auch wenn er nur ganz knapp in einem Satz verhandelt wird: Kepler entschuldigt sich dafür, dass er wegen einer Erkrankung nicht „das Dokument zur Eucharistie“ schreiben konnte. Hier wird ein Konflikt sichtbar, der vermutlich zum Abbruch seines Theologie-Studiums in Tübingen geführt hatte. Bei diesem Konflikt ging es vorrangig um die sogenannte Ubiquitätslehre, wonach Christus im Abendmahl allgegenwärtig sei – eine Ansicht, die Kepler ablehnte. Sie führte letztlich dazu, dass er sich zeitlebens weigerte, die Konkordienformel von 1580, die Bekenntnisschrift der Hauptlinie der Lutheraner, zu unterschreiben. Damit war klar, dass er an einer lutherischen Universität im Alten Reich keine Professoren-Stelle erhalten würde.3Vgl. hierzu Hübner 1975. Es ist nicht bekannt, ob Kepler in einem späteren Brief an Gerlach die gewünschte Stellungnahme verfasst hat.
Während der Brief von 1594 mit der Formel „discipulus M. Jo: Kepler“ (Schüler, Magister J. Kepler) endet, spricht der zweite Brief vom 8./18. Juli 1609 aus Prag eine andere, selbstbewusste Sprache.
Kepler war zwischenzeitlich kaiserlicher Hofmathematiker am Hof von Rudolph II. (1552–1612) geworden, in unmittelbarer Nähe von Tycho Brahe (1546–1601), der allerdings bald nach Keplers Ankunft verstorben war. In Prag veröffentlichte Kepler sein berühmtes Werk Astronomia Nova mit den beiden nach ihm benannten Keplerschen Gesetzen.
Der Brief an Gerlach ist kurz, auch die Sätze sind fast stenographisch gehalten. Inhalt des Briefes ist der Konflikt um den neuen Gregorianischen Kalender, der 1582 von Papst Gregor XIII. (1502–1585) eingeführt worden war. Mit dieser Reform sollte die immer weiter zunehmende Abweichung des Julianischen Kalenders vom tatsächlichen Sonnenlauf, die zu dieser Zeit bereits 10 volle Tage betrug, beseitigt werden. Gegen diese Reform organisierte sich ein scharfer Widerstand, vor allem auf protestantischer Seite. Man war der Meinung, dass der Papst kein Recht habe, auf dem Gebiet der Mathematik und Astronomie derartige Vorgaben zu machen. Die Protestanten witterten hier den Versuch, dass der Papst durch die Kalenderreform einen politischen und religiösen Einfluss zurückgewinnen wolle, den die katholische Kirche durch die Reformation verloren habe. Auch der im Brief erwähnte Mästlin war ein scharfer Gegner dieser Reform.
Wenn nun Kepler seinem Brief eine Bücherliste anhängte, die Mästlin für seine Auseinandersetzung mit den Katholiken „vollkommen nötig hat“, dann ist hieraus mitnichten zu folgern, dass er derselben Meinung gewesen sei. Ganz im Gegenteil. Bereits 1597 hatte sich Kepler in einem Brief an eben diesen Mästlin klar für die Annahme der Kalenderreform ausgesprochen, da er sie aus mathematisch-astronomischen Gründen für absolut berechtigt hielt. Es ist also eine Referenz an die alte Freundschaft, wenn Kepler Mästlin mit weiteren Literaturhinweisen für den Konflikt ausstattete. Die genannten Texte benennen wichtige Protagonisten dieses Konflikts, so den Mathematiker und Jesuitenpater Christopher Clavius (1538–1612), der eine Auseinandersetzung mit Mästlin führte, ferner den bedeutenden Philologen und Gelehrten Joseph Justus Scaliger (1540–1609), der mit seiner Schrift De emendatione temporum die Chronologie der Geschichte revolutionierte, und schließlich den Kardinal und Kirchenhistoriker Cesare Baronio (1538–1607) mit seinen vielbändigen Annales ecclesiasticae (1588–1607) die katholische Geschichtsschreibung mit der Kirche als Mittlerin des Heils verteidigte. Kepler belegt hier seine umfassende Gelehrsamkeit, die mit einem reinen Spezialistentum nichts zu tun hatte.
Beide Briefe stammen aus dem Teilnachlass von Stephan Gerlach, den die Forschungsbibliothek Gotha bewahrt und der mehrere hundert Briefe in zwei Bänden (Chart. A 386 und Chart. A 407) umfasst.4Vgl. hierzu Gehrt 2015, Bd. 1, XXXII; Bd. 2, 789 und 793. Der Nachlass lässt sich seit 1745 nachweisen, dem Todesjahr des damaligen Bibliotheksdirektors und Mitglied des Gothaer Oberkonsistoriums Ernst Salomon Cyprian (1673–1745).
Verfasser: Dr. Sascha Salatowsky (FBG), 21.12.21
Bibliographie:
Quellen:
Handschriften:
Johannes Kepler: Brief an Stephan Gerlach. Graz, 19./29. Oktober 1594. FBG, Chart. A 407, Bl. 281r.
Johannes Kepler: Brief an Stephan Gerlach. Prag, 8./18. Juli 1609. FBG, Chart. A 407, Bl. 282r.
Drucke:
Johannes Kepler: Prodromus dissertationum cosmographicum, continens mysterium cosmographicum. Tübingen 1596. FBG, N 8° 5023 (5).
Johannes Kepler: Tertius interveniens. Das ist/ Warnung an etliche Theologos, Medicos, Philosophos, sonderlich D. Philippum Feselium, daß sie bey billicher Verwerffung der Sternguckerischen Aberglauben/ nicht das Kindt mit dem Badt ausschütten und hiermit ihrer Profession unwissendt zuwider handeln. Frankfurt/Main 1610. FBG, Math. 4° 156b/5 (1).
Johannes Kepler: Epitome astronomiae copernicae. Linz 1618. FBG, Math. 8° 361/4.
Johannes Kepler: Harmonices mundi libri V. Linz 1619. FBG, Math. 2° 19/1.
Johannes Kepler: Tabulae Rudolphinae. Ulm 1627. FBG, Math. 2° 50/2.
Christian Friedrich Schnurrer: Erläuterungen der Würtembergischen Kirchen-, Reformations- und Gelehrtengeschichte. Tübingen 1798, S. 475f. (Abdruck des Briefes von Kepler an Gerlach, 1594).
Johannes Kepler: Gesammelte Werke. Band XIII. Briefe 1590–1599. Hrsg. von Max Caspar. München 1945, S. 15.
Johannes Kepler: Gesammelte Werke. Band XVI. Briefe 1607–1611. Hrsg. von Max Caspar. München 1954, S. 247f.
Forschungsliteratur:
Volker Bialas: Johannes Kepler. München 2004.
Max Caspar: Johannes Kepler. Stuttgart 1948.
Daniel Gehrt: Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft. 2 Bände. Wiesbaden 2015.
Jürgen Hübner: Die Theologie Keplers zwischen Orthodoxie und Naturwissenschaft. Tübingen 1975.
Sascha Salatowsky, Karl-Heinz Lotze (Hg.): Himmelsspektakel. Astronomie im Protestantismus der Frühen Neuzeit. Gotha 2015.
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